Teil 20 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein
Der Kandelaber von Pisco ist am besten aus einer Distanz von etwa einem halben Kilometer vom Meer aus zu sehen. Vom Boot aus wirkt das Zeichen im Wüstenboden wie eine Fata Morgana... wie eine Botschaft aus grauer Vorzeit. Man staunt über die wuchtige Größe, die doch zugleich so seltsam filigran auf den Besucher wirkt. Vor vielen Jahrhunderten wurde dieses Kunstwerk geschaffen. Es hat die Zeiten überdauert.
Steht man aber direkt am Fuße der eigenartigen Geoglyphe, so erkennt man so gut wie nichts von dem Riesenbild. Man erahnt nur, was aus der Distanz als Gesamtbild gesehen wird. Man vermutet da und dort Linien, aber diese Linien scheinen kein sinnvolles Bild zu ergeben.
Die Mittelachse des Kandelabers besteht aus einer nur etwa fünfzig Zentimeter tiefen und bis zu fünf Meter breiten Furche. Diese Furche wird rechts und links von einem kleinen »Wall« umrandet.
Handelt es sich um eine steinerne Einfassung? Hart wie Stein ist sie jedenfalls... hart wie Stein ist auch der Boden der seichten Furche. Stein scheint es aber nicht zu sein, sondern eher von der Hitze festgebackener Sand. Wirklich geradlinig verläuft diese Umrandung weder bei der Mittelachse, noch bei den beiden schmaleren kleineren äußeren »Säulen«. Was aus der Distanz wie eine exakte Linie aussieht, sie aus der Nähe betrachtet wie der geschwungene Verlauf einer Wellenlinie am Strand.
Vom Fuß des Kandelabers aus blickt man auf Wellen: auf die Wellen des Meeres zu seinen »Füßen«... und auf die Wellen aus Sand, auf wogende, niedrige Sanddünen, in die das seltsame Riesenzeichen eingebettet ist. Das von unbekannten Künstlern vor vielen Jahrhunderten geschaffene Werk wirkt wie ein Fremdkörper: fast wie ein in den Staub des Mondes gegrabenes Bildnis. Es ist eindeutig künstlich.. und doch anmutig schön wie ein Werk der Natur.
Warum, so frage ich mich, wird der Dreizack nicht verweht? Warum deckt ihn der Wind nicht mit Sand zu? Mein Eindruck: Es ist der Wind, der dafür sorgt, dass der Kandelaber immer sichtbar bleibt. Offenbar liegen – zufällig oder bewusst gewählt – genau solche Bedingungen vor, die dafür sorgen, dass der Wind die Mulden (aus denen der Kandelaber besteht) immer wieder frei fegt. Ob das am Neigungswinkel des ansteigenden Bodens – ich schätze es sind zwischen 35 und 40 Grad – liegt?
Hinzu kommt die Sonne, die dafür sorgt, dass das Riesenbild nicht verschwindet. Sie erhitzt den sandig verkrusteten Boden, erzeugt so eine Art Luftkissen. Dieses Luftpolster verhindert, dass Staub- und Sandpartikel die erstaunliche Geoglyphe zudecken. Sie werden vom Wind darüber hinweggeblasen, setzen sich erst gar nicht auf dem Erdbild ab.
Diese Erklärung macht verständlich, warum auch die Pisten und figürlichen Darstellungen auf der Ebene von Nasca so viele Jahrhunderte überstanden haben. Das Wärme-Luftpolster direkt über dem Wüstenboden verhindert, dass Staub und Sandpartikel das Bilderbuch für die himmlischen Götter verschwinden lassen. Sie sinken erst gar nicht bis zum Boden, sondern sie werden über die Scharrzeichnungen hinweggeweht.
Vor menschlichem Vandalismus wird Nasca durch drakonische Strafen bewahrt. Wer die Ebene betritt, der muss mit Geldstrafen von bis zu einer Million Dollar oder fünf Jahren Knast rechnen. Diese Maßnahme zeigt zum Glück Wirkung! Noch vor wenigen Jahrzehnten nutzten Motorsportler die Ebene von Nasca um ihre PS-Monster tüchtig auszufahren, abrupt abzubremsen und so schnell wie möglich wieder zu beschleunigen. Erhebliche Schäden wurden so den Kunstwerken im Wüstensand zugefügt.
Die Bilder von Nasca wie der Kandelaber von Pisco entstanden vor vielen Jahrhunderten in einer unwirtlichen, unwirklich anmutenden Welt. Skurril sieht das seltsame Bild im Negativ aus... plastischer als das Foto im Positiv. Die rätselhaften Riesenbilder von Nasca sind im »raspaje«-Verfahren geschaffen worden: die dunklere oberste Schicht des Wüstenbodens wurde weggeschabt, so dass der hellere Untergrund zum Vorschein kam. So entstanden helle Linien, Pisten, geometrische Figuren sowie Darstellungen von Tieren und menschenähnlichen Wesen.
Zur Erinnerung: Am 22. Juni 1941 brach Dr. Paul Kosok, ein Historiker von der »Long Island University«, New York, zu einem Erkundungsflug auf. Von einem einmotorigen Sportflugzeug aus wollte er zwischen den Ortschaften Ica und Nazca alte Wasserkanäle ausfindig machen. Vergleichbare Geoglyphen – ebenso im »raspaje«-Verfahren kreiert... wurden auch in Chile aus der Luft entdeckt. Waren sie – wie die Bilder von Nasca – für himmlische Wesen gedacht?
Andere Kunstwerke der ungewöhnlich großen Art lassen sich am ehesten mit Mosaiken vergleichen. Bei dieser »Técnica de Adición« wurden möglichst dunkle Steine (meist Lava-Brocken) auf hellem Wüstenboden zu Mustern und Bildern angeordnet. Konnten die Menschen der Region die zahlreichen Bilder einst wie ein Buch lesen? Stammen sie von nomadisierenden Volksgruppen, die auf diese Weise Botschaften hinterließen?
Etwa 83 Kilometer nordöstliche von Iquique gibt es die wahrscheinlich größte Darstellung eines menschenähnlichen Wesens überhaupt. Man findet sie, wenn man von Huara nach Colchane fährt. Vierzehn Kilometer östlich von Huara folgt man einer Schotterpiste durch die Wüste – zum »Cerro Unitá«, einem Hügel mit teilweise steilen Hängen. Touristen verirren sich eher selten in diese abgelegene Region.
Fährt man über die allenfalls notdürftig befestigte »Straße« auf den Hügel zu, so erkennt man eigenartige »Pisten« oder »Streifen«, die am Fuß des kleinen Berges beginnend... gen Himmel streben.
Seltsame Formationen von sorgsam zusammengetragenen Steinen fallen auf. Sind es geometrische Muster ohne tiefere Bedeutung? Oder soll man sie als Schrift entziffern und lesen? Sollten sie so etwas wie ein Buch im Wüstensand darstellen? Dann gibt es heute niemanden mehr, der die Zeichen und Symbole wie ein Buch lesen kann!
Umrundet man den Hügel entdeckt man schließlich... den »Gigante de Atacama«. Oder besser gesagt: Man erahnt den riesenhaften Gesellen, den man in seiner Gesamtheit nur aus der Luft, aus der Vogelperspektive, sehen kann. Er schmiegt sich an einen Hang des Hügels. Sein Kopf liegt zum Teil oben auf der Kuppe, entzieht sich also dem Betrachter zu Füßen des Hügels.
86 Meter misst er von den Fußsohlen bis zu den Haarspitzen. Oder sind es »Strahlen«... oder »Federn«? In der wissenschaftlichen Literatur gibt es keine allgemein akzeptierte Antworten auf so manche Frage. Soll die größte Darstellung einer menschenähnlichen Gestalt eine Gottheit darstellen... oder einen irdischen Herrscher?
Auf mich wirkt das riesenhafte Wesen eigenartig eckig und roboterhaft. Seine rechte Hand erinnert mehr an eine mechanische Greifvorrichtung als an eine menschliche Hand. Mit der linken Hand hält es eine seltsame Stange. Das Ding könnte auch über der Schulter getragen werden. Ein kleines Wesen – vielleicht ein Äffchen? – klettert daran empor.
Eine Zeichnung soll die Details verdeutlichen, die man heute kaum noch zu erkennen vermag. Erhebliche Schäden (vom Zahn der Zeit zugefügt) lassen an manchen Stellen nur noch erahnen, was das große Kunstwerk einst gezeigt haben mag.
Der »Gigant« ist der »König« der Wüstenbilder. Die Atacamawüste hat offenbar über viele Jahrhunderte hinweg die Künstler verschiedener alter Kulturen geradezu magisch angezogen. Auf einer Fläche von 150 000 km² wurden in den vergangenen Jahrzehnten mehr als 5 000 entdeckt. Sie wurden vor allem entlang uralter Karawanenwege durch die Wüste geschaffen: einzelne Darstellungen finden sich ebenso wie Gruppen mit Dutzenden von Bildern. Neben abstrakt geometrischen Formen wurden Menschen und Tiere dargestellt: teils durch das Wegkratzen der dunkleren oberen Schicht des Wüstenbodens, teils durch Anhäufen dunkler Steine.
Mir kommt es so vor, als hätten unzählige Künstler die weiten Flächen der Atacamawüste als riesige »Seiten« eines gewaltigen Buches verstanden. Aber werden wir jemals dazu in der Lage sein, die Wüste wie ein Buch zu lesen? Dabei können wir bequem in kleinen Flugzeugen die Werke unserer Vorfahren aus der Luft bestaunen... und sehr viel deutlicher und besser sehen als die damaligen Künstler!
Am besten man befährt mit dem Auto Nebenstraßen und sucht von Anhöhen aus die in der Distanz liegender Hänge ab. Ein Fernglas oder ein starkes Teleobjektiv sind dabei sehr hilfreich. Dann erkennt man immer wieder Erdbilder von faszinierender Schönheit. Entdeckungen sind vorprogrammiert. Leider fahren – anders als in der Nasca-Region – offenbar auch heute immer noch Vertreter unserer modernen Kultur mit Geländefahrzeugen in der Wüste herum.... und zerstören so uralte Riesenbilder. Es ist deprimierend: Kunstwerke, die viele Jahrhunderte, vielleicht zwei Jahrtausende und mehr überstanden haben, werden von heutigen Zeitgenossen zerstört. Vielleicht verschwinden so uralte Kunstwerke... bevor sie wirklich entdeckt und untersucht werden können.
Die Wüstenbodenbilder sind aber nur aus der Distanz in ihrer vollen Schönheit zu erkennen. Wurden sie gar nicht für menschliche Augen erschaffen? Das mutet seltsam an. Kreiert ein menschlicher Künstler doch in der Regel seine Werke in der Hoffnung, dass möglichst viele Menschen sie bewundern. Bilder, die niemand sehen kann, ergeben keinen Sinn. Und doch existieren sie: die Geoglyphen... Kunstwerke für die Götter?
Staunend stellte ich nach wiederholten Besuchen vor Ort, dass es heute noch sehr viele Kunstwerke dieser Art geben muss. Es dürften einst viel mehr, nämlich Tausende und Abertausende gewesen sein. Bei jedem meiner Besuche vor Ort habe ich immer wieder neue entdeckt. Und immer wieder wurde mir bei der Sichtung der Kunstwerke im Wüstenboden aus der Distanz klar, wie groß sie zum Teil sein müssen. Strommasten, inmitten von Geoglyphen errichtet, muten plötzlich geradezu winzig an.
Zu viele Jahrhunderte galt ein »wissenschaftliches Weltbild«, das keinen Platz bot für Unerklärliches. Es war ein Circulus vitiosus: Was mit herkömmlichen Theorien nicht vereinbar war, wurde von der Wissenschaft nicht behandelt. Und was von der Wissenschaft nicht bearbeitet wurde, wurde als »unwissenschaftlich« deklariert. So gab es ein riesiges Heer von verdammten Fakten, die nicht sein konnten, weil sie nicht sein durften. Sie konnten nicht sein, weil sie in den Gedankengebäuden der Wissenschaft keinen Platz fanden. Und weil sie in den schulwissenschaftlichen Lehrbüchern nicht vorkamen, konnte es sie nach wissenschaftsgläubiger Weltsicht nicht geben. So wie vor Jahrhunderten die Mainstrom-Theologie nicht passende religiöse Texte als apokryph diskreditiert und nicht in die Bibel aufgenommen wurden, so wurden störende Fakten in wissenschaftlichen Standardwerken nicht zugelassen.
Wir benötigend dringend einen Klimawechsel in der Weltsicht von Wissenschaftlern und Laien: Wir müssen endlich auch das scheinbar Unerklärliche berücksichtigen. Nur dann werden wir vielleicht eines Tages Antworten auch auf unbequeme Fragen finden. Wir brauchen einen Klimawechsel im Denken, der auch das scheinbar Unbegreifliche zur Kenntnis nimmt.
Wie kann so ein Klimawechsel in der wissenschaftlichen Denkweise erreicht werden? Wir »Laien« müssen ihn einfordern, so lautstark wie nur möglich!
Anmerkung des Verfassers: Dies ist Folge 20. meiner laufenden Serie. Ich danke meinen Leserinnen und Lesern für die positive Resonanz.
Von Herzen gratuliere ich Lena Meyer-Landrut zum wohlverdienten Sieg beim Grand Prix in Oslo! Herzlichen Glückwunsch!