»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein
Foto 1: Deutsche Bauzeitung 1881 |
Nach wie vor stehen wir vor dem Tympanon des Freiburger Münsters. In der untersten »Zeile« sehen wir von rechts nach links die Verkündung von Jesu Geburt auf dem Felde. Als nächstes folgt rechts davon das Idyll der Geburt Jesu im Stall von Bethlehem. Chronologisch geht es jetzt nicht weiter. Links von der »Ecclesia« mit der Kerze in der Hand (Allegorie für die christliche Kirche. Foto 2!) folgt die Geißelung Jesu, der am Marterpfahl gefesselt steht. Zwei Folterknechte schlagen auf Jesus ein. Einer der beiden holt gerade mit einer gewaltigen Keule zum Schlag aus.
Foto 2: Ecclesia am Bett Mariens. |
Von links nähert sich Jesus gerade der »Verräter« Judas, der zum berühmten Judas-Kuss ansetzt. Ihm gilt Jesu ganze Aufmerksamkeit. Dem Verräter? Vor seiner Verhaftung befand sich Jesus – so die Evangelien des »Neuen Testaments« – an mehreren Tagen im Tempel von Jerusalem und predigte vermutlich zu Tausenden. Zumindest in jenen Tagen muss Jesus, glaubt man dem »Neuen Testament«, stadtbekannt gewesen sein. Ein verräterischer Freund wäre also überhaupt nicht erforderlich gewesen.
In einem Punkt stimmen die vier kanonischen Evangelien, bei allen Widersprüchen, überein: Jesus weiß beim letzten Abendmahl mit seinen Getreuen, dass ihn einer seiner Jünger verraten wird. Das besagt eindeutig der Text aller gängigen Ausgaben des »Neuen Testaments«...allerdings nur in Übersetzungen. Im griechischen Originaltext wird man aber vergeblich nach dem Verb »verraten« suchen. Da wird stets das Griechische »paradidonai« benützt.
Foto 3: Jesus wird gepeinigt. |
Was aber bedeutet »paradidonai«? Das geht aus dem Brief des Paulus an die Galater deutlich hervor (1): Paulus preist Jesus, der sich als Sohn Gottes für den Menschen Paulus freiwillig hingab. Für den Neutestamentler Pinchas Lapide ist somit Judas nicht der bösartige Verräter Jesu, sondern der treue Jünger Jesu, der mithalf, den göttlichen Plan im Einverständnis mit Jesus selbst in Erfüllung gehen zu lassen.
So fordert Jesus Judas im Evangelium nach Johannes – in der wörtlichen Übersetzung – konkret auf (3): »Was Du zu tun im Begriff bist, das tue schneller.« Möglich ist auch die Übersetzung: »Was Du tun musst, dass tue schneller!« Der große Kirchenlehrer Origines (etwa 185-254 n.Chr.) verstand den Kreuzestod Jesu deshalb auch nicht als Folge eines teuflischen, bösartigen Verrats, sondern als heilgeschichtliche Unvermeidlichkeit im großen Plan Gottes. Jesu Tod war demnach kein Unglück als Folge eines Verbrechens, sondern planmäßiges Geschehen.
Geht man den vier Evangelientexten nach Johannes, Markus, Lukas und Matthäus im griechischen Original auf den Grund, so wird aus einem Verrat durch Judas die »Dahingabe« mit Jesu Einverständnis. Die Evangelientexte bringen, bei aller Widersprüchlichkeit, eine theologische Überzeugung zum Ausdruck. Übereinstimmung herrscht im Christentum, dass Jesu Opfertod den Menschen zum Segen gereicht. Jesus starb demnach für die Sünden der Welt und erlöste damit die Menschheit. Wie kann dann Judas der teuflische Verräter sein, da doch ohne seinen »Verrat« Jesu Tod am Kreuz nicht möglich gewesen wäre. Und ohne diesen Foltertod gäbe es auch nicht die Erlösung der Menschheit – nach christlicher Glaubenslehre. Demnach muss man Judas als Mitwirkenden im göttlichen Plan sehen, der Jesus an die römische Justiz übergab. Und das geschah mit dem Einverständnis Jesu.
Was Judas als historische Gestalt angeht, so gibt es da im Kreis der »wissenschaftlichen« Theologie durchaus Zweifel! Der Theologe J.M. Robertson hält Judas für eine frei erfundene Gestalt, erschaffen von der frühen christlichen Kirche, als Propaganda gegen Juden und Judentum (4).
Frank Kermode (5) glaubt nicht an Judas als personifiziertes Negativbild vom Juden, sondern hält ihn für das Ergebnis literarischen Schaffens. Wenn es auf der einen Seite den guten Jesus gab, so forderte die Ausgewogenheit die Existenz eines negativen Gegenspielers auf der anderen Seite. Vladimir Propp schließlich (6) weist den Judastypen als typischen Part in zahlreichen folkloristischen Erzählungen nach. Ist Judas also nie eine wirkliche Person gewesen, sondern ein fiktiver literarischer Typ?
Kehren wir zu den biblischen Evangelien zurück. Am Rande der Verhaftung Jesu spielt sich Dramatisches ab. Während Jesus mit seinem Schicksal einverstanden ist, greift ein Jünger zum Schwert. Wie würde Jesus antworten? DER reine Pazifist scheint Jesus nach dem »Neuen Testament« nicht gewesen zu sein. Lesen wir nach im Evangelium, das nach Lukas benannt wurde (7): » Da sprach er zu ihnen: Aber nun, wer einen Geldbeutel hat, der nehme ihn, desgleichen auch eine Tasche, und wer's nicht hat, verkaufe seinen Mantel und kaufe ein Schwert.« Diese Worte fallen kurz vor den dramatischen Geschehnissen im Garten von Gethsemane! Doch im Moment der Verhaftung unterbindet Jesus jede Gewalt gegen die Schergen der Römer. Bei Lukas heißt es weiter (8): »Und einer von ihnen (gemeint: Petrus) schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein rechtes Ohr ab. Da sprach Jesus: ›Lasst ab! Nicht weiter! Und er rührte sein Ohr an und heilte ihn.«
Im Evangelium nach Matthäus spielt sich die bewegende Szene ganz ähnlich ab (9): »Und siehe, einer von denen, die bei Jesus waren, streckte die Hand aus und zog sein Schwert und schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm ein Ohr ab. Da sprach Jesus zu ihm: ›Stecke dein Schwert an einen anderen Ort. Denn wer das Schwert nimmt, der soll durch das Schwert umkommen.‹«
Markus berichtet den Sachverhalt genauso, wenn auch etwas knapper (10). Und selbst das Evangelium nach Johannes, das sonst nicht immer mit den Texten der synoptischen Kollegen konform geht, geht auf den Vorfall ein (11). Er enthüllt, dass Simon Petrus es war, der dem Knecht des Hohenpriesters das rechte Ohr abhaut. Auch der Name des Verletzten wird genannt: Malchus. Barsch befiehlt Jesus (12): »Steck dein Schwert in die Scheide!«
Diese dramatische Szene finden wir auch im Tympanon dargestellt. Guido Linke schreibt in »Gotische Skulpturen der Turmvorhalle« (13): »Drei Figuren tragen einen Judenhut, dazu gehört auch der kauernde Knecht Malchus, dem der schwertschwingende Petrus ein Ohr abschlägt, das Jesus den Evangelien zufolge wieder anheftete.«
Foto 6: Selbstmord des Judas. |
In der »Apostelgeschichte« (16) vermeldete Petrus das traurige Ende des Verräters. Und für seinen Lohn habe sich der Gottlose »einen Acker« erworben. Blutacker, Silberlinge, Der Widerspruch ist eklatant. Bei Matthäus (17) heißt es: »Aber die Hohenpriester nahmen die Silberlinge und sprachen: ›Es taugt nicht, dass wir diese in den Gotteskasten legen, denn es ist Blutgeld. Sie hielten aber einen Rat und kauften den Töpferacker dafür zum Begräbnis der Pilger. Dafür ist dieser Acker genannt der Blutacker bis auf den heutigen Tag.«
Bei Matthäus sind es die Priester, die den Acker kaufen. In der Apostelgeschichte ist es freilich Judas selbst, der das Stück Land erwirbt, bevor er Selbstmord verübt. Allerdings hängt er sich nicht wie bei Matthäus auf (18): Er »stürzte vornüber und ist mitten entzweigeborsten und all sein Eingeweide ist ausgeschüttet. Und es ist kundgetan worden allen, die zu Jerusalem wohnten, so dass dieser Acker genannt wird Blutacker.«
Bei Matthäus sind es die Priester, die für den Judaslohn einen Acker kaufen und Blutacker nennen, weil er mit dem Blutgeld bezahlt wurde. In der Apostelgeschichte ersteht Judas das Land vor seinem Tod selbst. Das Landstück erhält den Namen Blutacker, weil Judas darauf stürzte und aufplatzte. Es gibt also im »Neuen Testaments« Widersprüchliches über den Tod des Judas. Ist er nun gefallen und aufgeplatzt? Oder hat er sich aufgehängt? Diese beiden Versionen schließen einander eigentlich aus. Oder doch nicht? Amerikanische Fundamentalisten sind da manchmal recht findig. So gelingt es Gleason L. Archer beide Versionen miteinander in Einklang zu bringen. Diese Harmonisierung der Texte mutet haarsträubend an (19):
Judas erhängte sich demnach an einem Baum. Der muss nicht nur einen morschen Ast gehabt, sondern auch noch an einer steilen Klippe gestanden haben. Der besagte Ast ragte über den Abgrund. Ein heftiger Windstoß ließ den Ast abbrechen, der tote Judas stürzte in die Tiefe. Dann schlug er mit den in der Apostelgeschichte vermerkten unappetitlichen Folgen auf dem Feld auf. Im Tympanon sieht man nur eine kleine Auswahl von Szenen aus Jesu Leben, von seiner Geburt bis zum Tod am Kreuz. Der Tod des Judas ist eine davon. Es gelingt dem unbekannten Künstler, beide widersprüchliche Todesarten in einem Bild recht plastisch darzustellen. Man sieht Judas an einem Baum schwingen – und sein Leib ist aufgeplatzt. Auch lässt die Judas-Skulptur keinen Zweifel aufkommen, dass Judas als Handlanger des Teufels gesehen wird!
Dem toten Judas entgleiten die Silberlinge und fallen zu Boden. Gleichzeitig entweicht dem Leichnam die Seele des Toten. Sie wird – wie so oft in der Gotik – als kleines Kind dargestellt. Wie alle Seelen strebt natürlich auch die des Judas gen Himmel. Doch dieses Ziel erreicht sie nicht. Zwei Teufel verhindern das Emporschweben der Seele. Zwei satanische Gesellen (20) fangen sie »in Gestalt eines kleinen Menschleins« ein. Mir scheint, sie durchbohren sie mit Spießen, um eine Flucht gen Himmel zu verhindern. Guido Linke merkt kommentierend an (21): »Die Szenenauswahl scheint erstaunlich knapp, offenbar sollte ein besonderer Akzent auf den Verrat des Judas gelegt werden.«
Tod und Teufel scheinen das Tympanon dominieren zu wollen. Da werden uns die Toten gezeigt, wie sie verzweifelt versuchen, aus ihren Grabstätten zu klettern. Offensichtlich schwere steinerne Grabplatten erschweren das sehr. Auf der einen Seite sehen wir ein Totenkopf-Skelett-Wesen, das höhnisch zu lachen scheint. Auf der anderen steht tatenkräftig ein Teufel. Der Teufel hat es auf die Seelen der Menschen abgesehen. Nach dem Tode zerrt Satan die Sünder, die mit einer Kette aneinander gebunden sind, in sein Reich.
Foto 8: Tod und arme Tote. |
Gierig reißt das Höllenmonster seinen Schlund auf. Der Teufel – als monströses, schuppiges Wesen dargestellt – geht schon voran, setzt einen Fuß ins Höllenmaul. Und er zerrt seine Beute an schwerer Kette hinter sich her. Der Stand der Toten spielt keine Rolle. Wer dem Teufel verfallen ist, findet kein Erbarmen, da kann auch ein König noch so jammervoll und Mitleid erregend die Hände gefaltet gen Himmel recken, auch er muss in die Hölle. Das gilt auch für hohe kirchliche Würdenträger!
Foto 9: Teufel und Tote. |
Fußnoten
1) »Brief des Paulus an die Galater« Kapitel 2, Vers 20
2) Siehe hierzu Lapide, Pinchas: »Ist die Bibel richtig übersetzt«, Band 1, 5.
Auflage, Gütersloh 1995, Lapide, Pinchas: »Ist die Bibel richtig übersetzt?«,
Band 2, Gütersloh 1994 und Lapide, Pinchas: »Wer war schuld an Jesu Tod?«
Gütersloh 1987
3) »Evangelium nach Johannes« Kapitel 13, Vers 27
4) Robertson, J.M.: »Jesus and Judas: a Textual and Historical Investigation«,
London 1927. Siehe hierzu auch Robertson, J.M.: »Die Evangelienmythen«,
Jena 1910
5) Siehe Kermode, Frank: »The Genesis of Secrecy«, Cambridge 1979
6) Propp, Vladimir: »Morphology of Folktale«, Bloomington 1958
7) »Evangelium nach Lukas« Kapitel 22, Vers 36, zitiert nach der »Lutherbibel«,
2017
8) »Evangelium nach Lukas« Kapitel 22, Verse 50 und 51
9) »Evangelium nach Matthäus« Kapitel 26, Verse 51 und 52
10) »Evangelium nach Markus« Kapitel 14, Vers 47
11) »Evangelium nach Johannes« Kapitel 18, Verse 2-12
12) »Evangelium nach Johannes« Kapitel 18 Vers 11
13) Linke, Guido: »Freiburger Münster/ Gotische Skulpturen der Turmvorhalle«,
Freiburg, 1. Auflage 2011, Seite 28, rechte Spalte unten und Seite 29, linke
Spalte oben
14) »Evangelium nach Matthäus« Kapitel 27, Vers 3
15) Ebenda, Vers 5
16) »Apostelgeschichte des Lukas« Kapitel 1, Vers 18a
17) »Evangelium nach Matthäus« Kapitel 27, Verse 6-8
18) »Apostelgeschichte des Lukas« Kapitel 1, Vers 18b
19) Archer, Gleason L.: »Encyclopedia of Bible Difficulties«, Grand Rapids,
Michigan 1982, S. 344
20) Linke, Guido: »Freiburger Münster/ Gotische Skulpturen der Turmvorhalle«,
Freiburg, 1. Auflage 2011, Seite 29, linke Spalte oben
21) ebenda, linke Spalte unten
Foto 10: Ab in die Hölle! |
Zu den Fotos
Foto 1: Deutsche Bauzeitung 1881. Foto Archiv Langbein
Foto 2: Ecclesia am Bett Mariens. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 3: Jesus wird gepeinigt. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 4: Verhaftung Jesu im Garten Gethsemane. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 5: Petrus haut Malchus ein Ohr ab. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 6: Selbstmord des Judas. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 7: Teufel zerrt Seelen in die Hölle. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 8: Tod und arme Tote. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 9: Teufel und Tote. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 10: Ab in die Hölle! Foto Walter-Jörg Langbein
376 »Ochs‘ und Esel und das Blut des Pelikans«,
Teil 376 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 02.04.2017
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