»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein
Foto 1: Piropiro vor einem Jahrhundert und heute. |
Nach 120 Tagen auf See erreichten die Flüchtlinge die Osterinsel, während ihre alte Heimat in den Fluten des Pazifiks versank. In der Anakena-Bucht gingen sie, müde, erschöpft und erleichtert, an Land. Neben der aus 67 Schrifttafeln bestehenden Bibliothek hatten sie etwas noch Wertvolleres gerettet. Sie nannten dieses geheimnisvolle Etwas in ihrer melodischen Rapa-Nui-Sprache »Te-pito-te-Kura«. Dieses mysteriöse Etwas sei ihr wertvollster Besitz gewesen, den sie mit in die »Neue Heimat«, die Osterinsel brachten (1).
Die Anakena-Bucht bietet einen schmalen Streifen Sandstrand. An den Rändern tummeln sich oft Scharen von Seeigeln. Der Badende, der sich näheren Kontakt mit den Stacheltieren ersparen möchte, hält sich am besten in der Mitte. Einen Katzensprung von der Anakena-Bucht entfernt ragte einst auf seiner soliden Plattform der steinerne Riese Namens »Paro« in den Himmel. Er liegt heute in Trümmern auf der Nase und bietet einen traurigen Anblick.
»Geboren« wurde »Paro« im Steinbruch am »Rano Raraku«-Krater. Von dort bis zu Paros bemitleidenswerten Resten sind es »nur« knapp sechs Kilometer. Diese sechs Kilometer kommen einem wie eine strapaziöse Langstreckentour vor, wenn man sie bei strahlendem Sonnenschein zu Fuß zurücklegt. Eine kleine Weltreise muss diese kurze Strecke für jene gewesen sein, die den Koloss vom Steinbruch an die Küste schafften.
Foto 2: Steiniger »Strand« |
Sechs Kilometer weit wurde der steinerne Riese »Paro« – wie auch immer – transportiert. Man bedenke: Er maß einst fast zehn Meter, bevor er umgestürzt wurde und in mehrere Teile zerbrach. Eine Meisterleistung! Man schätzt sein Gewicht auf 82 Tonnen! Auf seinem Haupt thronte einst ein steinerner »Hut«. Der tonnenförmige rötliche Stein ist zwei Meter hoch und wiegt allein fast zwölf Tonnen. Er stammt von einem anderen »Steinbruch«, von »Puna Pau« und musste fast 18 Kilometer querfeldein befördert werden. Mit »Hut« wiegt der Koloss also fast 94 Tonnen.
In der Theorie funktionierte alles ganz einfach: Man brachte den Koloss in die Senkrechte, schob ihn auf sein Podest, baute eine Rampe, die bis zum Kopf des Riesen reichte. Über diese Rampe rollte man den Hut (12 Tonnen!) nach oben und platzierte ihn in luftiger Höhe auf den Kopf des Giganten. Wer nicht an Klaustrophobie leidet und auch sonst kein ängstlicher Mensch ist, der kann unter den Unterleib des steinernen Kolosses krabbeln und wird eine interessante Ritzzeichnung entdecken: von einem Segelschiff mit zwei Masten. Ich vermute, dass der Koloss schon alt war, als Osterinselkünstler das Abbild eines Segelschiffs in seinen Leib ritzten. Die Gravur offensichtlich erst nach Ankunft der Europäer im 18. Jahrhundert angebracht.
Foto 3: Piropiro und 2 Besucher |
Übrigens: Noch größer als der heute zerbrochene Riese »Paro« ist der Moai »Piropiro«. 11 Meter misst er vom Nabel bis zum Scheitel. Allerdings ließ man den Giganten unweit des Steinbruchs am »Rano Raraku«-Krater einfach stehen. Fünf Meter sank er in den Boden. Halb steckt er im Boden, halb ragt er aus dem Erdreich. Oder wurde er, um ihm sicheren Halt zu bieten, halb eingegraben?
Der frühe Weltreisende und Forscherautor Ernst von Hesse-Wartegg (*1851; †1918), 1888 bis 1918 Konsul von Venezuela für die Schweiz, war von den großen Kulturen unseres Globus fasziniert. Die Monumente, die unsere Vorfahren weltweit bereits vor Jahrtausenden errichteten, verblüfften den Weltenbummler immer wieder. Nichts aber faszinierte ihn so wie die Kolosse auf der Osterinsel. Von Hesse-Wartegg schrieb kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in seinem zweibändigen Werk »Die Wunder der Welt« (2), dass die schweigenden Riesen von »unbekannten Schöpfern« gemeißelt wurden und »wahrscheinlich zu den ältesten Skulpturen der Menschheit« gezählt werden müssten.
Von Hangaroa, der einzigen Siedlung auf der Osterinsel, kann man den Strand der Anakena-Bucht per PKW, Motorrad, Fahrrad oder Pferd auf inzwischen recht ordentlichen Straßen erreichen. Eine recht ordentliche Straße führt von Hangaroa aus Richtung Norden, Richtung Anakena-Bucht. Kurz bevor man die Küste erreicht kommt man an eine Kreuzung und biegt nach rechts ab. Nach zwei Kilometern erreicht man einen kleinen Parkplatz und ist am Ziel.
Es ist ohne Zweifel nicht ohne Reiz auf dem Rücken eines Pferdes die Osterinsel zu erkunden. Allerdings stellt sich dann immer wieder die Frage, was man mit dem braven Pferd macht, wenn man – zum Beispiel – den »Nabel der Welt« näher in Augenschein nehmen möchte. Anders als im »Wilden Westen« gibt es keine Parkplätze für Reitpferde. Nirgendwo sind Halterungen zum Anbinden des treuen Rosses angebracht.
Foto 4: Palmenwäldchen mit Pferden unweit der Anakena-Bucht |
Man kann auch mit dem Auto bis zur Anakena-Bucht fahren, unter Palmen parken und den Rest zu Fuß gehen. Vom Sandstrand der Anakena-Bucht zum »Nabel der Welt« ist es nicht weit, der Weg an der steinigen Küste entlang bringt den Wanderer der echten Osterinsel-Atmosphäre näher.
Was mich schon lange beschäftigt: Wissen wir, was »Te-pito-te-Kura« war? Und ist diese Kostbarkeit heute noch vorhanden? » Te-pito-te-Kura« heißt zu Deutsch heißt der klangvolle Name: »Nabel aus Licht« oder »Nabel des Lichts«. Was dürfen wir uns unter einem »Nabel aus Licht« oder »Nabel des Lichts« (3) vorstellen? Die »offizielle« Erklärung: Der mysteriöse »Nabel« sei nichts anderes als ein Spheroid (4) aus dichtem, kristallinem Vulkangestein von schwarz-grauer Färbung.
Foto 5: »Nabel der Welt«? |
Der seltsame Stein ist nicht als Skulptur komplett neu geschaffen worden. Es handelt sich also nicht um so etwas wie eine Skulptur. Er scheint aber von kundiger Hand etwas »geformt« und »glattpoliert« worden zu sein. In welchem Umfang der »Nabel« bearbeitet wurde, das lässt sich nicht mehr genau feststellen. Offenbar ist er eisenhaltig, deshalb lässt er jeden Kompass verrücktspielen. Fakt ist: Der Stein – Umfang 2,53 Meter – stammt eindeutig von der Osterinsel, das ist erwiesen. Der mysteriöse »Licht-Nabel« soll aber vom Atlantis der Südsee zur Osterinsel geschafft worden sein. Irgendwie wurde irgendwann aus dem »Lichtnabel« der »Nabel der Welt«, »Te-pito-te-henua«. Genauer gesagt: Er bildet das Zentrum eines eigenartigen Ensembles: um den großen zentralen Stein angeordnet sind vier wesentlich kleinere Steine. Das Ganze wiederum wird von einem niedrigen Steinmäuerchen umschlossen.
Je gründlicher ich mich mit der seltsamen Anordnung beschäftigte, desto klarer wurde mir, dass man recht wenig weiß. Einen Besuch ist die geheimnisvolle Anlage allemal wert. Allerdings muss ich zugeben: Meine Recherchen zerstörten so manche meiner Illusionen. Offensichtlich ist der Komplex, bestehend aus Mäuerchen, einem größeren zentralen und vier kleineren Steinen, kein uraltes Heiligtum der Osterinsel. Im kleinen Museum der Osterinsel zeigte man mir einige vergilbte Fotos, die ältesten stammten aus den 1970er Jahren. In einer Aufnahme, angeblich Mitte der 1970er Jahre entstanden, sieht man nur den großen, eiförmigen Stein am steinigen Strand liegen. Weder die um den Stein platzierten vier kleineren Steine, noch das Mäuerchen sind da zu sehen. Das heute Touristen gezeigte Gesamtensemble ist offensichtlich erst nach 1970/ 1975 entstanden.
Unklar ist, wer das Mäuerchen erbaut hat und warum. Waren es Osterinsulaner? Waren es die Mitglieder einer Reisegruppe von Esoterikern? Wer gruppierte wann die vier kleineren »Steineier« um den steinernen »Nabel der Welt«. Waren es die Esoteriker, die sich auf die vier relativ unbequemen Steine setzten, um mit den Händen die Kräfte des zentralen Steins zu erspüren? Waren es Osterinsulaner, die esoterisch angehauchten Besuchern etwas bieten wollten? Oder waren es Einheimische mit Humor, die sich darüber amüsierten, was man den leichtgläubigen Touristen alles erzählen konnte.
Foto 6: »Nabel der Welt« oder »Nabel des Lichts«? |
Bei meinem ersten Besuch vor Ort anno 1982 erklärte mir mein »Pensionswirt«, dass das »Mäuerchen« immer wieder verändert wird. Mal ist es kniehoch, mal hüfthoch, mal ist es breiter als hoch, mal höher als breit, mal hat es einen »Eingang« und mal nicht, mal weist der Eingang Richtung Meer, mal in die entgegengesetzte Richtung. Auch scheint sich die Form des Mäuerchens zu verändern, mal ist es runder, mal ovaler. Diese Veränderungen lassen darauf schließen, dass das Ganze für die Osterinsulaner keine religiöse Bedeutung hat.
Unbestreitbar ist: Eine alte Sage berichtet von »Te-pito-te-Kura«, vom »Nabel des Lichts«, der vom Atlantis der Südsee mit auf die Osterinsel gebracht wurde. Der »Nabel-der-Welt-Stein« stammt aber definitiv von der Osterinsel selbst. Deshalb ist es vollkommen ausgeschlossen, dass der zentrale schwarzbraune Stein im Mäuerchen dieser »Nabel des Lichts« ist.
Foto 7: Hier liegt der mysteriöse »Nabel« |
Heute gehört ein Besuch beim »Nabel der Welt« zum Pflichtprogramm für Osterinselbesucher. Dessen ungeachtet: Die Attraktion ist keine 50 Jahre alt. Es ist gut möglich, dass das leicht erreichbare Ensemble in Anlehnung an die alte Sage geschaffen wurde, vielleicht von esoterischen Touristen, vielleicht von Osterinsulanern.
Wo aber befindet sich dann der wirkliche »Nabel des Lichts«? Wartet das mysteriöse Objekt irgendwo in einer unterirdischen Kammer darauf, wieder entdeckt zu werden? Die Bezeichnung »Nabel des Lichts« lässt viel Raum auch für kühne Gedankenspiele und Spekulationen.
Fußnoten
(1) Joseph, Frank: »Lost Civilization of Lemuria/ The Rise and Fall of the World’s Oldest Culture«, Rochester 2006, Kapitel »Navel of the World«, S. 54-S.82, Seite 61, letzter Absatz unten
(2) Hesse-Wartegg, Ernst von: »Die Wunder der Welt«, Band 1, Stuttgart, Berlin, Leipzig, o.J., S. 473 u. 474
(3) Im Englischen: »navel of light«.
(4) Spheroid: Keine Kugel, sondern ellipsenartig im Querschnitt
Zu den Fotos
Foto 1: Piropiro vor einem Jahrhundert und heute. Foto vor 100 Jahren Archiv Walter-Jörg Langbein. Foto heute: Ingeborg Diekmann
Foto 2: Steiniger »Strand«. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 3: Piropiro und 2 Besucher, links Elfriede Wellbrock, der Herr mit ausgestrecktem Arm ist Walter-Jörg Langbein. Foto Ingeborg Diekmann
Foto 4: Palmenwäldchen mit Pferden unweit der Anakena-Bucht. Foto Ingeborg Diekmann
Foto 5: »Nabel der Welt«? Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 6: »Nabel der Welt« oder »Nabel des Lichts«? Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 7: Hier liegt der mysteriöse »Nabel«. Foto Ingeborg Diekmann
Foto 8: Kuriose Osterinselfigur - verfremdet, bnasierend auf einer Zeichnung
von Grecte C. Söcker. Verfremdung und Collage: Walter-Jörg Langbein
(links!)
481 »Eine Osterinselstatue auf der Insel der Meuterer?«,
Teil 481 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 7. April 2019
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